Wohlfahrt verstehen
Stefan Shaw, Kommentar,
Wer über die Weiterentwicklung des sozialen Sektors nachdenkt, kommt an der Wohlfahrt nicht vorbei. Ihre großen Social Entrepreneure des 19. Jahrhunderts, etwa Johann Hinrich Wichern oder Lorenz Werthmann (Gründungsväter von Diakonie und Caritas) haben gegen erhebliche Widerstände das Soziale nicht nur zum Thema gemacht ...

sondern sowohl Beispiele für die erfolgreiche Umsetzung sozialer Projekte geliefert als auch Standards gesetzt, die immer wieder verteidigt werden mussten und bis heute fortwirken.

Inzwischen sind wir im 21. Jahrhundert angekommen. Wen finden wir heute, wenn wir die Wohlfahrt suchen? Die Antwort hängt in erster Linie vom Blickwinkel des Betrachters ab. In zweiter Linie auch davon, wie die Wohlfahrt angeschaut werden möchte. So erscheinen Verbände der freien Wohlfahrt wahlweise als monolithische Blöcke, die in Deutschland für das Soziale schlechthin stehen (und sprechen), oder lediglich als schützende überregionale Dächer, unter denen sich engagierte lokale Träger zwanglos austauschen können.

Wer über die Weiterentwicklung des sozialen Sektors nachdenkt, sollte sich bemühen, die großen Wohlfahrtsverbände zu seinem Partner zu machen, denn in ihnen sind soziale Felderfahrung und Zugang zur Fläche gebündelt wie in keiner anderen vergleichbaren Struktur. Was aber, wenn sich die Wohlfahrt dem Werben (zunächst) entzieht? Wie lässt sich dennoch Verständigung erreichen? Am Anfang von Verständigung steht Verständnis. Um zu einem wahren Verständnis zu gelangen, ist es notwendig, von der Außensicht auf die Innensicht zu wechseln. Dies ist naturgemäß für den externen Beobachter schwierig, aber nicht unmöglich. Denn im Dialog mit Mitgliedern von Wohlfahrtsverbänden zeigen sich Muster, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen.

Historie: Wir sind das Soziale
Die Wohlfahrt, insbesondere Caritas und Diakonie, blicken auf eine vielhundertjährige Geschichte des sozialen Engagements zurück. Es war ein soziales Engagement in Zeiten, in denen keinerlei soziale Sicherungssysteme vorhanden waren, um Kranke und Bedürftige aufzufangen. Und auch keine Gesellschaft, die es sich zur sozialen Pflicht auferlegt hätte, unterschiedslos allen Bürgern ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Die Wohlfahrt entstand in einem Verteilungs- und Abwehrkampf gegen Interessen, die dem Sozialen entgegengesetzt waren.
Dies kann erklären, warum Vertreter der Wohlfahrt gelegentlich aversiv reagieren, wenn Menschen außerhalb des Wohlfahrtsystems sich jetzt, nachdem das Soziale endlich durchgesetzt ist, mit (vermeintlichen) Verbesserungsvorschlägen zu Wort melden.

Auftrag: Wir haben das Mandat
Historisch gesehen, insbesondere in vordemokratischen Zeiten, galten Vertreter der Wohlfahrt häufig als die einzigen Anwälte der Bedürftigen. Zuweilen schreibt sich diese Wahrnehmung weiter fort in einer Wohlfahrt, die aufgrund ihrer Existenz für ihre Existenz mandatiert ist, und zwar auf alle Ewigkeit.
Dies kann erklären, warum Vertreter der Wohlfahrt gelegentlich übersehen, dass die Entscheidungen über notwendige soziale Leistungen nicht bei der Wohlfahrt selbst liegen dürfen, sondern bei der öffentlichen Hand – und damit nur einer Instanz unterworfen sind: dem Wählerwillen.

Wirksamkeit: Gut gemeint ist gut gemacht
Wohlfahrtsangehörige verstehen sich als Teil eines sozialen Sicherungssystems, das Menschen auffängt, die in Not geraten. Jenes System muss also gut sein, weil es in Opposition steht zu einem System, das schlecht ist, durch dessen Lücken immer wieder Menschen abstürzen. Wer nach dem Sturz im sozialen System landet, hat Zuflucht gefunden, unter ein gutes, schützendes Dach und zu einer guten, helfenden Hand.
Dies kann erklären, warum es Angehörigen der Wohlfahrt zuweilen schwer fällt, entschieden in eine Wirksamkeitsdebatte einzutreten. Denn wirksam ist, was gut ist, und gut ist hier alles.

Innovation: Kollektiv toppt Individualität

Angehörige der Wohlfahrt sehen sich als Teil eines Kollektivs der Guten. Individualismus ist in der Betrachtung der Wohlfahrt Ausdruck einer egoistischen Gesellschaft, zu der der solidarische Kollektivgedanke der Wohlfahrt das Gegenmodell bildet. Aus diesem Kollektivgedanken heraus fällt es Angehörigen der Wohlfahrt schwer, individuelle Spitzenleistungen in den eigenen Reihen sichtbar zu machen. Denn dies würde ja sichtbar machen, dass einige Menschen Dinge besser machen als andere, obwohl es doch alle gut meinen.
Dies kann erklären, warum es Wohlfahrtsverbänden mitunter schwer fällt, innovative und besonders erfolgreiche Lösungsansätze in den eigenen Reihen zu identifizieren und anderen Einrichtungen des Verbandes zugänglich zu machen.

System: Sprache ist Identität
Um dem Grundgedanken der Wohlfahrt zu entsprechen, also möglichst viele Menschen möglichst gut zu erreichen, wäre eine fortwährende Überprüfung des eigenen Tuns notwendig. Die begrifflichen Konzepte für die Überprüfung und Veränderung sind Effektivität, Effizienz, Wirksamkeit und nicht zuletzt Best Practice Sharing – alles Begriffe einer durchökonomisierten „kalten“ Gesellschaft, die in Opposition steht zum „warmen“ Solidarsystem Wohlfahrt.
Dies kann erklären, warum Angehörige der Wohlfahrt sich zuweilen schwer tun, ihr Tun entlang solcher Dimensionen zu reflektieren. Denn täten sie es, drohte ihnen die grundsätzliche Unvereinbarkeit der zwei Systeme abhanden zu kommen, aus der so mancher die Existenzberechtigung der Wohlfahrt ableitet – und nicht zuletzt ihre Identität.

Macht: Das Ganze ist weniger als die Summe seiner Teile
In Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ taucht der Scheinriese Tur Tur auf. Aus der Ferne ein furchteinflößender Riese, wird Tur Tur immer kleiner, je näher man ihm kommt. Schließlich steht man vor einem kleinen Mann, der ganz erstaunt ist, dass die Welt sich vor seiner Scheingröße fürchtet.
Der Blick aus der Ferne: Die Monopolkommission der Bundesregierung wirft den Wohlfahrtsverbänden seit Jahren ihre Machtfülle vor, ihre Intransparenz, die kartellartigen Strukturen und die Mittelverschwendung. Der Blick aus der Nähe: Ein erfahrener, wohlmeinender und enorm beschäftigter Herr, der ängstlich zurückfragt: Ich? Ein Kartell?!

Irgendwo dazwischen liegt die Verständigung.

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