Kann man das googlen? Wie Geflüchtete das Internet nutzen
najimerten,
Viele Geflüchtete recherchieren nicht im Internet. Sie kennen die digitalen Projekte nicht, die ihnen weiterhelfen könnten. Die meisten kennen keine einzige Organisation, die Flüchtlingshilfe anbietet. Der Überblick über die digitale Landschaft fehlt. Woran liegt das? Ein Team von clarat.org hat sich auf die Suche nach einer Antwort gemacht.

In den letzten Jahren sind in Deutschland etliche Online-Produkte entstanden, alle mit dem Ziel, Geflüchteten das Leben zu erleichtern. Gleichzeitig sind in verschiedenen Studien Daten darüber erhoben worden, wie Geflüchtete online unterwegs sind, welche Tools sie nutzen, welche Apps beliebt sind und was ein Online-Produkt können muss, um wirklich hilfreich zu sein. Ein clarat.org-Team hat die letzten Wochen damit verbracht, diese Studien auszuwerten und zusammenzufassen.

Die Ergebnisse der Studien
Geflüchtete in Deutschland nutzen das Internet sehr regelmäßig, jedoch nahezu ausschließlich über das Smartphone. Das Smartphone ist, anders als z.B. das Tablet oder das Notebook, unter Geflüchteten als Alltagsgegenstand selbstverständlich. Für die meisten hat es sich während der Flucht als unersetzbarer, teilweise sogar lebensrettender Helfer erwiesen, vor allem dank GPS und verschiedener Map- und Übersetzungs-Apps.(1) Nach der Ankunft in Deutschland rückt die Kommunikation mit Bekannten und Familie via WhatsApp und Facebook in den Vordergrund. Die geflohenen Menschen suchen den Kontakt zu Angehörigen und Freunden, die noch im Herkunftsland oder in anderen Ländern oder Städten leben. Das Smartphone wird ein zentrales Tool für die Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts.(2)

Geflüchtete müssen sich nach ihrer Ankunft durch ein Dickicht aus Gesetzen und Regeln kämpfen, das sich nicht ohne Weiteres selbst erklärt. Sie haben selbstverständlich viele Fragen. Erstaunlicherweise nutzen sie das Internet aber kaum zur Recherche von Beratungen oder Unterstützungsangeboten, die ihnen diese Fragen beantworten könnten. Dafür sind verschiedene Erklärungen vorgeschlagen worden: Es kann an der unterschiedlich ausgeprägten digital literacy von Geflüchteten liegen oder ganz simpel an der oft fehlenden Verfügbarkeit für lange Recherche ausreichend starker Internetverbindungen. Es fehlt aber auch das Vertrauen in Informationen aus dem Netz. Und schlicht die Kenntnis der refugee-spezifischen Online-Hilfe-Welt.

Die Studien mit Fokus auf Geflüchtete in Deutschland haben ergeben, dass die Häufigkeit, mit der das Internet genutzt wird, unter anderem vom Herkunftsland des jeweiligen Befragten abhängt: Syrer und Iraker nutzen das Internet zu 80% täglich, im Gegensatz zu weniger als der Hälfte der geflüchteten Zentralasiaten (Afghanen, Pakistaner, Iraner). Es wird vornehmlich online kommuniziert und auf vorinstallierte Apps zurückgegriffen. 71% der Syrer, 60% der Iraker und 52% der Zentralasiaten nutzen das Internet auch zur Beschaffung von Informationen, aber eher über Social-Media-Kanäle (Whats-App- und Facebook-Gruppen) als mithilfe klassischer Online-Recherche. Oft fehlt die Erfahrung damit.(3) Interessanterweise ist die Internet-Nutzungsquote auch abhängig vom Geschlecht. Geflüchtete Frauen sind im Durchschnitt weniger online als Männer. Die Vermutung ist, dass die Frauen häufig mit anderen Aufgaben betraut sind und weniger Zeit dafür zur Verfügung haben.(4)

Offenbar sind Geflüchtete unterschiedlich digitally literate. Das ist aber nur dann ein entscheidender Faktor, wenn Geflüchtete überhaupt die Möglichkeit haben, das Netz frei und ungestört zu nutzen. Ein gesicherter Internetzugang ist leider nicht in allen Unterkünften selbstverständlich. Das befördert analoge Wege der Recherche.

Tatsächlich erfolgt die Beschaffung von Informationen zu großen Teilen im direkten Kontakt, vor allem werden andere Refugees nach ihren Erfahrungen befragt (persönlich oder über soziale Netzwerke), aber auch Ehrenamtliche oder Angestellte vor Ort. Was dabei überrascht: Den Informationen anderer Geflüchteter wird weniger Vertrauen entgegengebracht als denen der Ehrenamtlichen und Professionellen.(5) Die Angst vor Fehlinformation scheint ein relevanter Faktor zu sein. Es gibt darum ein großes Bedürfnis nach vertrauenswürdigen Informationen. Geflüchtete wünschen sich Aufklärung, z.B. in Bezug auf mögliche Handlungspfade zur Verselbständigung (Beruf, Ausbildung, Wohnung, etc.) und bezüglich der Gesetze und Regeln in Deutschland. Das Internet vermittelt als Informationslieferant nicht das nötige Vertrauen.(6) Auf welchen Kanal kann man sich verlassen? Wo bekommt man wirklich seriöse Informationen? Viele Geflüchtete kennen die digitalen Projekte nicht, die bereits bestehen und die ihnen weiterhelfen könnten. 80% kennen keine einzige Organisation, die Flüchtlingshilfe anbietet. Der Überblick über die digitale Landschaft fehlt. Woran liegt das? Entweder haben diese Produkte die Geflüchteten noch nicht erreicht oder sie sind nicht ansprechend genug für sie.(7)

Einige Initiativen haben es jedoch geschafft, den richtigen Ton zu treffen, und sind aus dem Online-Dschungel hervorgetreten. Etwa Handbook Germany, ein Informationsportal, das regelmäßig Text-, Bild- und vor allem Video-Content mit Infos und Erfahrungsberichten veröffentlicht. Oder Arab Almanya, eine von einem Syrer gegründete Online-Plattform, die Nachrichten und Informationen auf Arabisch zur Verfügung stellt. Beide haben hohe Klickzahlen und viele Follower in den sozialen Netzwerken. Sie zeigen, dass es möglich ist, Geflüchtete zu aktivieren und online zu erreichen: mit Informationen und Orientierung über die gängigen sozialen Medien – verständlich aufbereitet, ansprechend präsentiert und in für Geflüchtete relevante Sprachen übersetzt.

Quellenangaben:
(1) Dr. Sina Arnold, Stephan Oliver Görland, Samira Abbas: Digitalisierung und selbstorganisierte migrantische Logistik, in: Solidarität im Wandel. Hrsg. vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Berlin 2017
(2) Martin Emmer, Carola Richter, Marlene Kunst: Flucht 2.0. Mediennutzung durch Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht, Hrsg. vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin, Berlin 2016
(3) Emmer, Richter, Kunst, Berlin 2016
(4) Ben Mason, Lavinia Schwedersky, Akram Alfawakheeri: Digitale Wege zur Integration. Wie innovative Ansätze der Zivilgesellschaft Geflüchtete in Deutschland unterstützen, Hrsg. von gut.org, Berlin 2017
(5) Mason, Schwedersky, Alfawakheeri, 2017
(6) Emmer, Richter, Kunst, 2016
(7) Mason, Schwedersky, Alfawakheeri, 2017

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