Soziale Einhörner
Philip Scherenberg,
Instead of risking anything … Der soziale Sektor wird gemeinhin nicht für besonders innovativ gehalten. Belege für diese Einschätzung lassen sich schnell finden. Besonders in Deutschland ist es ein Jammern auf hohem Niveau – aber es bleibt ein Jammern.

Wer schon einmal einen Platz in einer Kindertagesstätte oder im betreuten Wohnen gesucht hat, kann ein Lied davon singen. Andernorts wiederum herrscht unübersichtliches Überangebot, wie etwa in bestimmten Bereichen der Jugendsozialarbeit. Gleichzeitig entwickelt sich im For-Profit-Paralleluniversum eine neue Organisationsspezies, deren Mantra „Innovation & Change“ im sozialen Sektor scheinbar ungehört verhallt.

Der Comic oben bezieht sich auf den viel beschworenen Niedergang von Corporate America. Darauf, dass innovative Jungunternehmen aus dem Silicon Valley die großen Dow-Jones-Konzerne nicht nur angreifen, sondern überholen. Darauf, dass satte, ergraute Manager in Hochhäusern ihre Zeit absitzen und sich auf den Lorbeeren aus vergangenen Tagen ausruhen. Derzeit besonders vom Umbruch „betroffene“ Branchen sind Finanzdienstleistungen, Energie, Gesundheit und Mobilität. In allen Fällen stehen junge Unternehmen in den Startlöchern, welche die alten Geschäftsmodelle und damit die alten Unternehmen gefährden. Sie entwickeln mit neuer Technologie und modernem Marktverständnis Produkte, die entweder besser oder günstiger sind. Meistens sind sie beides.

Unglaublich gut erzählte Geschichten (und ein günstiges Kapitalmarktumfeld) führen zu spektakulären Erwartungen an die neuen Ideen. Aus dem ehemals kleinen Kreis der „Unicorns“ – der Einhörner, die man früher so selten gesichtet hatte wie ihre Namensgeber: Start-Ups, die mit mehr als 1 Mrd. Dollar bewertet wurden – hat sich längst eine ganze Herde entwickelt. Inzwischen geht es nicht mehr um die Milliarden-Bewertung, sondern um das Milliarden-Funding: den Betrag des aufgenommenen Startkapitals, um einer neuen Idee Leben einzuhauchen.

Diese verrückten Bewertungen sind gewollt und Teil der Businesskultur. Denn setzen sich die geplanten Innovationen wirklich durch, hoffen die etablierten Firmen das noch im richtigen Moment zu realisieren, um rechtzeitig zuschlagen zu können. Nicht vernichtend, aber einverleibend. So gesehen ist diese verrückte Start-up-Blase längst Teil von Corporate America, nicht zuletzt als Ideen- und Impulsgeber und als üppig ausgestatteter Innovationsmotor.

Doch schnell zurück in unseren sozialen Sektor. Es gibt auch hier viele große etablierte Player, die ihren Job seit Jahrzehnten gut machen – pflichtbewusst, zuverlässig und unaufgeregt. Der pauschale Vorwurf der Innovationsfeindlichkeit ist hier vermutlich nicht viel richtiger oder falscher als gegenüber Corporate America oder der „Deutschland AG“. Innovation und damit Veränderung sind auch hier erwünscht, häufig aber erst, wenn das Wasser bis zum Hals steht und business as usual nicht mehr funktioniert.

Überträgt man die Logik der Jungen, Kleinen und der Großen, Alten in die Funktionsweise des sozialen Sektors, müssten sich wohl die Sozialunternehmens-Gründer als die Speerspitze der Innovation verstehen und die etablierte Wohlfahrt diese genau im Blick haben, um sich gegebenenfalls ein Scheibchen vom Innovationskuchen abzuschneiden. Oder gleich den ganzen Kuchen zu übernehmen. Eben im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Eine Übernahme von oder Beteiligung an besonders innovativen Konzepten wäre konsequent. Denn auch hier sollte gelten: Was erwiesenermaßen besser und günstiger geht, sollte zum Standard erhoben werden – und wer sich dem neuen Standard verschließt, wird sich bestenfalls im obigen Comic wiederfinden. In einer Marktwirtschaft regelt das der Markt. Aber wer regelt das in der Sozialwirtschaft?

Es regelt die Sozialwirtschaft selbst. Und ihr innerer Motor wird zuweilen auch durch Funken der Neuerung befeuert. Je genauer man hinschaut, desto häufiger finden sich Belege. So ist etwa das Büro für soziale Innovationen der Diakonie Düsseldorf herauszuheben, das ein Podium für soziale Entwicklungen bietet, um diese im Wirkungsbereich der Diakonie bekannt zu machen.

Ein weiteres Beispiel ist der Sozialpreis innovatio, der durch Caritas und Diakonie vergeben wird. Seit 1998 fördert innovatio konkrete Antworten der Kirchen und der kirchlichen Wohlfahrt auf aktuelle soziale Fragen. Alle zwei Jahre werden 28.000 EUR Preisgeld ausgelobt.
Eine etwas verwegenere Suche nach Weiterbildungsformaten zu Innovation oder Innovationsmanagement bei den Akademien des Paritätischen Gesamtverbands blieb hingegen erfolglos.

Innovationen sind kein Teufelszeug. Sie sind Teil einer dynamischen Wissensgesellschaft, die sich der Weiterentwicklung des Status quo und der Verbesserung der Lebensverhältnisse aller verpflichtet hat. Als solche sollten die Bedingungen, die zu Innovationen führen, gepflegt und kultiviert werden. Und wenn es dann zu einer wirklichen Neuerung kommt, dann sollten die großen Player im sozialen Sektor auch die Möglichkeiten haben, sich daran zu beteiligen. Und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch gesellschaftsrechtlich. M&A im sozialen Sektor – das klingt noch wie Teufel und Beelzebub. Dies wird sich aber ändern (müssen).

Wenn nicht, jammern wir irgendwann alle auf niedrigem Niveau.

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