Ein neuer Hafen für clarat family
Stefan Shaw, Anne Schulze,
Wir haben vor wenigen Tagen entschieden, unser Portal clarat family in neue Hände zu geben. Was hat uns dazu bewogen?

Zunächst ein Rückblick: Als wir vor gut vier Jahren unsere Stiftung in ihrer gegenwärtigen Struktur aufbauten, beschlossen wir, unseren Fokus auf Kinder und Jugendliche in Bedrängnis und Not zu richten. Hierzu entwickelten wir ein Credo, das seither für alle unsere Aktivitäten gelten soll: „To connect the disconnected“. Um herauszufinden, welche konkreten Maßnahmen für benachteiligte Kinder, Jugendliche und deren Familien wir unterstützen könnten, wollten wir uns erst einmal einen Überblick über die Angebotslandschaft in Deutschland verschaffen. Dies gestaltete sich jedoch erheblich schwieriger als gedacht. Wir fanden keine Gesamtübersicht zu den vorhandenen Angeboten für unsere Zielgruppe, weder auf nationaler noch auf regionaler oder lokaler Ebene. Stattdessen Stückwerke aus Wohlfahrtsverbänden, Kommunen oder Ländern. Aber nichts, was ein sinnvolles Gesamtbild ergeben hätte.

Nach einigen Monaten weiterer vergeblicher Recherche kamen wir zu einer zentralen Einsicht: Wenn wir schon nicht herausfinden konnten, was es alles an Unterstützungsangeboten gab, wie sollten es denn die Menschen herausfinden können, die diese Unterstützung tatsächlich benötigen? Damit war die Idee zu clarat family geboren: Ein internetbasiertes Angebotsverzeichnis, das es Familien in Bedrängnis ermöglicht, in ihrer unmittelbaren Nähe genau die Unterstützung zu finden, die sie brauchen.

Dabei war uns von Beginn klar, dass wir es eigentlich mit zwei Zielgruppen zu tun hatten, zum einen mit den Familien selbst, zum anderen mit den sogenannten „Lotsen“, also Mitarbeitern in Beratungseinrichtungen, die bereits Zugang zu Familien mit (häufig multiplen) Problemlagen haben. Unsere Überzeugung war, dass vor allem jene Lotsen von dieser Hilfestellung für ihre Arbeit mit „ihren“ Familien profitieren müssten. Eine Hilfestellung, mit der sie ihr persönliches Netzwerk um weitere Angebote erweitern könnten, die vielleicht noch näher an den spezifischen Problemen der Familien dran wären als die ihnen bekannten Angebote – sowohl inhaltlich als auch geographisch. Also legten wir Ende 2014 los, zunächst mit einem kleinen Team, und begannen unsere Reise in die Untiefen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – mit dem ambitionierten Ziel, diesen Ausschnitt aus dem sozialen Sektor erstmalig vollständig zu kartieren.

Das erste Ziel unserer Reise war Berlin. Sofort stießen wir auf eine Reihe von Herausforderungen. Die erste: Die Informationen, die wir in Verzeichnissen oder auf Webseiten finden konnten, beschrieben in erster Linie keine Angebote, sondern Organisationen. Unsere erste Aufgabe bestand also darin, herauszufinden, welche Angebote die recherchierten Organisationen für unsere Zielgruppe tatsächlich vorhielten. Unsere zweite Aufgabe bestand dann darin, die destillierten Angebote so zu beschreiben, dass unsere Zielgruppe sie auch verstehen konnte. Hierfür mussten wir zwei Übersetzungsleistungen erbringen. Zunächst von „Behördisch“, also von „wir erbringen Leistungen nach § XY des Sozialgesetzbuchs“ in alltagstaugliches Deutsch. Und dann von Deutsch in einfache Sprache, also ein Deutsch, das alle verstehen, auch Menschen, die nur über eine einfache Schulbildung verfügen oder vielleicht noch gar nicht lange in Deutschland leben. Angenehmer Nebeneffekt dieser Übersetzungsleistungen: Auch wir verstanden nun zum ersten Mal, was da draußen alles für Familien in Krisensituationen angeboten wird, – und konnten dank automatisierter Übersetzung der einfachen Sprache unsere Angebote sogar in einer Reihe von weiteren Sprachen, etwa auf Türkisch, Russisch, Arabisch, anbieten.

Sehr schnell hatten wir jedoch eine überaus ernüchternde Lerneinheit absolviert: Es gab mehr Angebote, als wir dachten, viel mehr, viel viel mehr. Uns wurde klar, dass wir selbst mit 10-15 Personen über zwei Jahre brauchen würden, um allein die Angebotslandschaft in Berlin so zu erfassen und darzustellen, dass wir unserem Anspruch gerecht werden konnten, echte Orientierung zu bieten.

Fast forward gute zwei Jahre später: clarat family für Berlin war inzwischen – endlich! – nahezu fertiggestellt und durch einige Schleifen von Neuordnungen gelaufen, so dass wir nun den Mut hatten, aktiv in die Szene zu kommunizieren, dass es uns gab. Unsere Nutzerzahlen stiegen zwar deutlich an, blieben insgesamt aber immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Was war da los? Bevor wir mit clarat family gestartet waren, hatten wir doch eine ganze Reihe von Experten und Lotsen der Kinder- und Jugendhilfe befragt und alle hatten uns bestätigt: Gibt es nicht, braucht es aber.
Also fragten wir erneut, und zwar in die Breite mit umfassenden Befragungen per Telefon, insbesondere bei den Lotsen, und in die Tiefe durch intensive Befragungen von Familien in Not. Warum nutzt Ihr clarat nicht? Was bräuchtet Ihr, damit Ihr es nutzen würdet?

Die Ergebnisse waren ernüchternd: Die Zielgruppe sozial benachteiligter Familien nutzte clarat family kaum aktiv, um Lösungen für ihre Probleme zu finden. Generell waren sie mit der Fülle an Informationen überfordert und konnten sie auch deswegen nicht einordnen, weil es ihnen an grundsätzlichem Wissen über das Hilfesystem in Deutschland fehlte. Unsere zweite zentrale Zielgruppe, die Lotsen, fanden die clarat family-Idee zwar weiterhin bestechend, vertrauten persönlich aber weiterhin ausschließlich ihrem Netzwerk. Mit anderen Worten: Wir sendeten mit clarat family an beiden Zielgruppen vorbei. Gespräche mit Vertretern aus Familienministerium und Wohlfahrtsverbänden bestätigten uns: Alle, die in den vergangenen zwei bis drei Jahren versucht hatten, Angebote im Internet zu entwickeln, waren offensichtlich auf ähnliche Barrieren gestoßen – mit einer Ausnahme: Familien mit höherem Bildungsstand nutzen offensichtlich das Internet durchaus, um allgemeinen Rat und spezifische Lösungen für Probleme in der Familie zu finden.

Wir mussten somit insgesamt erkennen: Nur Angebote zu listen, reicht nicht aus, um sozial benachteiligte Eltern zu erreichen. Stattdessen müssen sie eingebettet werden in weitere redaktionelle Inhalte. Inhalte, die Familien dabei helfen, ihre Probleme einzuordnen, und ihnen aufzeigen, was sie vom Hilfesystem in Deutschland überhaupt erwarten können. Denn nur wer darauf vertrauen kann, dass es Unterstützung gibt, wird sich überhaupt auf die Suche nach ihr begeben.

Für clarat family waren dies – nachdem der erste Schrecken verdaut war – gar keine so schlechten Nachrichten. Denn nun war ja klar, was zu tun war, um die Plattform erfolgreich zu machen. Für die Benckiser Stiftung Zukunft als Initiatorin und Betreiberin von clarat family jedoch waren es keine so guten Nachrichten. Gemäß des Leitbildes der Stiftung „To connect the disconnected“ war unser ursprüngliches Ziel gewesen, den gesamten Sektor zu kartieren (auch um daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen), und nicht, – etwas pointiert ausgedrückt – einen redaktionellen Elternratgeber für Berlin zu entwickeln. So wichtig und notwendig ein solches Angebot ist und so eindeutig der Weg dorthin, es entspricht nicht der Strategie unserer Stiftung. Denn wir wollen weitreichende Lösungen für die wirklich Abgehängten der Gesellschaft entwickeln.

Zu unserem großen Glück nahm genau in dieser Zeit die Gründerin Rose Volz-Schmidt des Internetportals ElternLeben.de aus Hamburg Kontakt mit uns auf. ElternLeben.de hatte genau das, was clarat brauchte. Es bot Orientierung in der Hilfelandschaft durch redaktionelle Inhalte und erreichte damit sowohl gut situierte als auch sozial benachteiligte Eltern. ElternLeben.de wollte wiederum ein zentrales Element deutlich ausbauen: Eine Datenbank mit „Offline“-Hilfsangeboten in der geographischen Nähe ihrer Nutzer. Es brauchte nur ein offenes Gespräch und die Idee einer Verschmelzung beider Angebote unter der Führung von ElternLeben.de war geboren. Eine Verschmelzung, die beide bisherigen Produkte jeweils um eine wichtige Komponente ergänzt, und somit den Familien noch effektiver helfen kann.

Genau dieses – die Verschmelzung der beiden Produkte – wurde in der vergangenen Woche von unserem Stiftungsrat bestätigt und und wir haben unseren Entschluss gestern unseren clarat-Mitarbeitern kommuniziert. Eine schmerzhafte Nachricht, denn sie bedeutet, dass wir uns von ihnen trennen müssen. Mit clarat family übergeben wir eine große Idee und was wir daraus geschaffen haben, jedoch nicht die Mitarbeiter, die clarat family aufgebaut haben. Warum? Wir haben clarat family in den vergangenen Jahren mit großem konzeptionellen und technischen Einsatz in die Welt gebracht. Nach dieser Aufbauleistung wird es im nächsten Schritt andere Mitarbeiterprofile brauchen, um unsere Angebote pflegen und erweitern zu können, statt Hochschulabsolventen also eher Werkstudenten.

Was aber ist die langfristige Perspektive für das, was wir geschaffen haben? Wir werden Rose Volz-Schmidt darin unterstützen, ElternLeben.de so in der öffentlichen Förderung zu verankern, dass eine Ausweitung der clarat family-Angebote auf ganz Deutschland möglich wird, begleitet durch Online-Beratung und redaktionelle Inhalte, die Orientierung schaffen.
Wir bleiben also in gewisser Weise an Bord von clarat family, aber nun unsererseits lediglich als begleitende Lotsen, die dazu beitragen wollen, dass das Schiff, das wir alle mit Pioniergeist und Leidenschaft miteinander gebaut haben, einen sicheren Hafen ansteuern wird, damit es dort mit all dem ausgestattet werden kann, was es braucht, um anschließend die Welt zu umsegeln.

Und jetzt bleibt nur noch Danke zu sagen. Danke einem Team, das sich unserem kühnen Plan anvertraut hat, ihn mit uns weiterentwickelte, uns immer wieder herausforderte und nie aufhörte, nach der bestmöglichen Lösung zu suchen. Danke einem Team, das nie vergessen hat, für wen wir da eigentlich arbeiten. Nicht für uns, nicht für clarat, nicht für die Stiftung, sondern für eine Welt, in der Menschen, die in Bedrängnis sind, die Hilfe bekommen, die sie brauchen.

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